Werkzeugkiste
#CubeStories
Auf die Idee der »Würfelgeschichten« kam ich durch drei Elemente:
1.
Zum einen Kartenspiele wie Tarot, die deutlich eine (charakterliche) Entwicklung beschreiben, auch wenn sie natürlich nicht dazu gedacht sind, Kurzgeschichten anzuregen.
Was, wenn man zufällige »Prompts« (Stichworte) ziehen könnte, und daraus eine Story machen müsste? Prompts, die mich zwingen würden, jenseits meiner Komfortzone und meinen üblichen Themen zu schreiben?
Zudem spülte mir Instagram eine Werbung in den Feed, die ein Würfelset vorstellte, das genau diesen Zweck hatte: Stories erfinden. Nur fand ich die gegebenen Prompts für meine Zwecke bei Weitem nicht ausreichend oder inspirierend genug.
2.
Sich zu beschränken, zu erweitern oder jenseits der üblichen Tonlage zu schreiben, ist eine wichtige Übung, um sich über Perspektive, Sound und grundsätzliche Möglichkeiten bewusst zu werden. Nur wenn man auf Elemente verzichtet, merkt man, was sich mit ihrer Verwendung eigentlich verändert.
Die #CubeStories laden dazu ein, diese fremden Pfade zu betreten und mal nur von außen zu beobachten, nur in Gedanken zu beschreiben, mal eine befremdliche Tonlage zu erfinden oder bewusst neutral zu formulieren. Damit erweitert man die »Toolbox« und erschließt sich die Wirkung der einzelnen Werkzeuge.
3.
Es gibt zwei ganz wunderbare Bücher, die genau das zeigen. Beide gehen gleich vor: Es wird eine einzige Szene genommen, die in vielen Varianten durchgespielt wird. Diese Textexperimente zeigen, dass die Form einer Geschichte genauso wichtig wie ihr Inhalt ist. Es macht einen enormen Unterschied, in welchem Rahmen, aus welcher Perspektive, in welcher Tonlage und welchem Tempus man eine Geschichte erzählt – ihre Wirkung wird sich völlig verändern. Beide Bücher gibt es inzwischen als Neuauflagen:
- Raymond Queneau »Stilübungen«
- Friedrich Christian Delius »Die Minute mit Paul McCartney«
Da für mich eine einzelne Szene x-mal zu wiederholen nicht verlockend ist, ich aber trotzdem Lust auf diese befremdlichen, anregenden, seltsamen Impulse habe, kam ich auf die Idee der #CubeStories, die ich fürs Erste jeden Donnerstag auswürfeln werde.
Ihr seid herzlich eingeladen mitzuschreiben. Allein für euch oder mit dem Hashtag #CubeStories.
Es gibt fünf Parameter: (1) Plot, (2) Protagonist, (3) Perspektive, (4) Setting und (5) Tonlage. Sie sollten alle respektiert werden, aber die künstlerische Freiheit geht immer vor. Textlänge sollte eine Normseite sein, bzw. 2.000 Zeichen, aber wenn ihr merkt, dass ihr gerade die Idee für euren neuen Roman ausgegraben habt, lasst euch nicht abhalten.
Wer eine Ziehung gerne mal in bewegten Bildern verfolgen will, kann das in diesem TikTok-Video. Die Kurzgeschichte, die aus dieser Ziehung entstand, kann hier nachgelesen werden: #CubeStory No 5 – »DER TAG, AN DEM ISSY STARB«
Wen die fertigen Geschichten interessieren, kann sie alle kostenfrei und in voller Länge auf »Ko-fi« (www.ko-fi.com/johanna_wolfmann) lesen. Keine Anmeldung und kein Account erforderlich. Die Prompts sind jeweils angegeben, ihr könnt sie jederzeit für eigene Textexperimente nutzen.
Und ja: Ich freue mich tatsächlich über einen Kaffee, wenn euch danach ist.
Schneeflockenmethode & Zoom-in
Hart-reglementierte Kurzgeschichten schätzte ich nicht besonders, weil die Ideenfindung im Grunde identisch ist mit der für einen Roman.
Kurzgeschichte und Roman unterscheiden sich dann natürlich doch voneinander. Die Idee für einen Roman gleicht der einer Besessenheit (bei mir zumindest), die über Monate, meist sogar Jahre anhält. Alles richtet sich an dieser Idee aus, zieht mehr und mehr Substanz an wie ein Magnet die Eisenspähe. Manchmal „gärt“ die Roman-Idee für Jahre im Oberstübchen, ehe das erste Wort auf eine weiße Seite geschrieben wird.
Im Moment schreibe ich an einer (Kurz-)Geschichte für die #Glutnacht-Anthologie von Benjamin Spang. Bei dieser Ausschreibung gibt es einen ziemlich großzügigen Freiraum von 4.000 bis 10.000 Wörtern, was echt ne Menge ist. Würde man die Obergrenze austesten, dann käme man auf plus/minus 40 Normseiten. Da kratzen wir mMn schon an „Erzählung“.
Während ich also so vor mich hin tippe und den großzügigen Freiraum genieße, schreibe ich hier und da ein Kommentar: „Ggfs. ausbauen“ – weil ich hab ja echt Platz. Beim dritten Kommentar dämmert mir, dass ich gerade etwas anwende, das man die „Schneeflockenmethode“ (OV: „Snowflake-method“) nennt. Damit ist zwar nicht der Umbau einer Kurzgeschichte in einen Roman gemeint, aber von einem Ideenkern ausgehend immer detailreicher zu werden.
Man steigert beginnend bei einem Satz (Plotline/Ideenkern) stetig den Umfang. Baut immer weiter aus, geht immer tiefer rein, wie im Reel von vor ein paar Tagen: Kompromissloses Zoom-in. Mehr Details, Beschreibungen, Gedanken, Beziehungen, Umfeld und *schwupps* hat man nach X Monaten einen fertigen Roman – in der Theorie versteht sich.
Als praktisches Beispiel könnte ich jetzt mit meinem Anthologie-Beitrag dienen:
- 1-Satz-Ideenkern: Mädchen wird einem Feuerdämon geopfert. (#Plotline)
- 1-Absatz: Valeria ist eine von vier Mädchen, auf die der Schatten des Dämons fallen kann. Damit wählt er sein Opfer, das am Tag der Sommersonnenwende den Tod in den Flammen finden wird. Aber als das Feuer auflodert, geschieht etwas Unerwartetes: Valeria überlebt und findet sich im Reich des Dämons wieder. Ein gedankliches Ringen beginnt, das Freund und Feind in Frage stellt.
- 1-Seite-Zusammenfassung
- Aufbau der Drei-Akt-Struktur
- 5-Seiten-Zusammenfassung
- Detaillierter Szenenplan
- Und dann schreibt man den 300-Seiten-Roman
Das wäre grob die „Schneeflockenmethode“.
Wenn mein #Schattenmädchen ein Roman werden sollte, dann würde ich auf einer weißen Seite neu anfangen, denn der Umbau von #Geschichte zu #Roman funktioniert für mich nicht, weil beide völlig verschiedene Tonlagen haben. Die Herangehensweise ist grundverschieden, nicht nur in Erzählerhaltung und Informationsvergabe.
Aber wer plotten möchte, kann die #Schneeflockenmethode sehr effizient nutzen, um eine gefundene Idee auszubauen. Mehr Infos unter diesen Links oder den Begriff in die Suchmaschine eurer Wahl eingeben:
- advancedfictionwriting.com/articles/snowflake-method/
- die-schreibtrainerin.de/schneeflockenmethode/
- tredition.com/schneeflockenmethode/
#TalesFromTheToolbox #belletristik #autorenalltag #schreiben #autorenleben #Schreibhandwerk
»Deep Point of View« – schon mal gehört?
Damit ist der Versuch gemeint, so nah wie möglich bei oder besser noch in der Perspektivfigur zu bleiben.
Ein Beispiel:
G. sah aus dem Fenster. All diese Menschen sind ahnungslos. Vollkommen ahnungslos. Sie werden mit Sicherheit ein böses Erwachen erleben, dachte er und wandte sich Richtung Tür, weil er glaubte, Schritte gehört zu haben. Hoffentlich ist das endlich H., betete er.
Mit Deep-PoV-Verschiebung:
Jenseits der Fensterscheiben, tief unten, erledigten die Menschen die letzten Besorgungen. Ahnungslos. Völlig ahnungslos. Sie alle, das war eine Gewissheit, würden ein böses Erwachen erleben.
Geräusche hinter ihm. Waren das Schritte auf dem Flur? Kam sie endlich zurück?! „Ist da jemand? … H., bist du das?!“
Die Verschiebung in den Deep-PoV zeichnet sich durch erlebte Rede aus und durch die Reduzierung von Sprech- bzw. Handlungs-„tags“ wie: sagen, bitten, denken, sehen, blicken, fragen, denken, erinnern …
Aber auch die Figur beim Namen zu nennen, verschiebt den PoV von der Figur zum Erzähler.
Das ist natürlich nur ein Anriss des Tools und längst nicht vollständig.
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